Wenn man lange genug über das Thema Kommunikation nachdenkt, könnte man zu dem Schluss kommen, dass es klüger wäre gar nichts mehr zu sagen — bis man merkt, dass man sich dadurch vielleicht missverständlich ausgedrückt hat.
In einer Welt, in der öffentliche Diskussionen in Echtzeit ablaufen und in Sekundenschnelle eskalieren können, gibt es sehr viele Fallstricke zu beachten. Microsoft ist während der Weihnachtszeit vor einigen Wochen durch eine Weihnachtsmütze in Bedrängnis geraten.
„Weihnachtsmütze so anstößig wie ein Hakenkreuz“
Was kann man mit der Darstellung einer Weihnachtsmütze eigentlich falsch machen? Offenbar sehr viel, wenn es nach dem Nutzer „ghost“ geht, der sich durch ein entsprechendes Symbol in Visual Studio Code (VS Code) während der Weihnachtszeit diskriminiert gefühlt hat.
Hier der Eintrag im Supportforum:
The Santa Hat on vscode insiders and pushing of religion is very offensive to me, additionally xmas has cost millions of Jews their lives over the centuries, yet even if that was not the case, pushing religious symbols as part of a product update is completely unacceptable. Please remove it immediately and make it your top priority. To me this is almost equally offensive as a swastika. Version: 1.42.0-insider (user setup)
Commit: 26f5dfc
Date: 2019-12-18T10:34:34.277Z
Electron: 6.1.6
Chrome: 76.0.3809.146
Node.js: 12.4.0
V8: 7.6.303.31-electron.0
OS: Windows_NT x64 10.0.18363Steps to Reproduce:
- Install latest build of insiders.
Does this issue occur when all extensions are disabled?: Yes
Additional reading on the issue that most certainly needs to be considered. https://www.sefaria.org/sheets/51928?lang=bi
Einige Leser werden vielleicht erstaunt oder verärgert sein über die Reaktion von Microsoft, einer solchen Forderung ohne „Gegenwehr“ nachzugeben. Auch ich war im ersten Moment verwundert über diese Vorgehensweise. Ausgerechnet in den USA, wo die Grenzen der freien Meinungsäußerung noch viel weiter gesteckt sind als bei uns in Deutschland, löscht man aufgrund einer eher radikalen religiösen Einstellung etwas so harmloses wie eine Weihnachtsmütze.
Dazu muss man wissen, dass die Weihnachtszeit in den USA seit Jahren Anlass für politische Diskussionen gibt.
„Merry Christmas“ oder „Happy Holidays“?
Die Weihnachtszeit dient den meisten Menschen traditionell zur Entschleunigung und dem sich Besinnen. Für einige Amerikaner bedeutet sie aber auch Stress. Nicht wegen dem Finden der richtigen Geschenke, sondern der Verwendung der korrekten Grußformel.
Zwar feiern auch viele Nicht-Christen Weihnachten als „kulturellen“ Feiertag. In einer immer vielfältigeren Gesellschaft mit Menschen verschiedener Kulturen und Glaubensrichtungen (einschließlich Atheisten) ist es aber nicht immer klar, ob ein Gegenüber Weihnachtstraditionen folgen möchte. Bei Juden fällt zum Beispiel das Chanukka Fest häufig in die Weihnachtszeit (in 2019 war das vom 22. bis 29. Dezember). Und aus der Black Power Bewegung ist in den 60er Jahren das sekuläre Kwanzaa Fest entstanden, ursprünglich als Alternative zu Weihnachten.
Viele Amerikaner sind deshalb der Ansicht, dass man lieber die politisch korrekte Formel „Happy Holidays“ (etwa „Frohe Feiertage“) verwenden sollte, um Menschen anderer Glaubensrichtungen ebenfalls Respekt zu zollen.
Ihr könnt euch vorstellen welche Explosionskraft diese Diskussion in den USA alljährlich entfaltet. Ein vermeintlicher „War on Christmas“ wird seit Jahren in konservativen Kreisen als vermeintlicher Angriff auf die eigene Identität beschworen. US-Präsident Donald Trump trieb das Thema dieses Jahr auf die Spitze, als er verkündete, dass dank seiner, das amerikanische Volk endlich wieder „Merry Christmas“ sagen dürfe.
— PoliticsVideo23 (@politicsvideo23) December 23, 2019
Das Schüren von Angst um Kulturverlust, ist ein beliebtes Werkzeug im Repertoire von Rechtskonservativen und -populisten auf der ganzen Welt.
Permanente Polarisierung: Was gemäßigte Entscheidungen so schwer macht
Öffentliche Diskussionen können heute sehr leicht eskalieren. Das hat mehrere Ursachen. Ein wichtiger Baustein ist Social Media. Auf Twitter, Facebook, Instagram, etc. laufen Diskussionen quasi in Echtzeit ab und können dank der Retweet- oder Teilen-Funktion schnell ein großes Publikum erreichen. Schalten sich dann Personen mit vielen Followern ein (sogenannte „Influencer“), kann ein beliebiges Thema in Windeseile große öffentliche Aufmerksamkeit erzeugen und enormen Druck auf Verantwortliche ausüben.
Als jüngstes Fallbeispiel können wir den „Umweltsau„-Eklat des WDR heranziehen. Eine Satirenummer wird gelöscht, weil sich (gefühlte) Massen an Menschen über den Beitrag empört haben. Der WDR knickt aufgrund des massiven Drucks ein und zensiert sich selbst.
Im „Weihnachtsmützen-Gate“ ist Microsoft einer ganz ähnlichen Dynamik aufgesessen. Einer absurden Forderung wird stattgegeben, um keinen Shitstorm zu riskieren.
In beiden (und vielen, vielen anderen) Fällen wäre etwas mehr Ruhe und Souveränität von den Verantwortlichen angebracht gewesen. Nicht jede Kritik, ganz gleich in welcher Lautstärke diese vorgetragen wird, ist gerechtfertigt. Empörungen haben durch koordiniertes Ausnutzen von Social Media-Algorithmen heutzutage System. Und selbst dann, wenn Kritik „organisch“ entsteht, sollte man diese vernünftig und nach den Grundwerten unserer freiheitlichen Gesellschaft bewerten. Das schließt sowohl die Satirefreiheit als auch das Verwenden von Symbolen ein, die keinen explizit religiösen Charakter haben (ein Kreuzsymbol wäre streitbarer gewesen).
Die permanente Polarisierung von Themen prägt unsere gesamte Gesprächskultur. Auch hier dürfte Social Media hauptverantwortlich sein — auf 280 Zeichen ist kein Platz für ausgewogene Diskussionen. Um Aufmerksamkeit zu erzeugen, ist die Versuchung groß, seine Positionen möglichst extrem zu formulieren. Der Dialog tritt in den Hintergrund, Meinungen stimmt man entweder 100% zu oder gar nicht. Tribalismus in Reinform.
Auch ich habe mir im Vorfeld dieses Artikel den Kopf darüber zerbrochen, ob jetzt irgendwelche rechten Idioten meine Kritik an Microsoft instrumentalisieren. Mir persönlich ist Religion ziemlich egal. Ich habe auch keine Angst um den Verlust meiner Kultur, wenn ich statt „Frohe Weihnachten“, „Frohes Fest“ sage. Ich finde nur, dass die Argumentation des Nutzers und die Reaktion Microsofts darauf – in diesem konkreten Fall – absurd gewesen ist.
Eine einfache Lösung für dieses gesellschaftliche Problem gibt es nicht. Mutig bleiben wäre vielleicht ein guter Ratschlag. Mutig bleiben und auch bei aufgeheizten Themen einen kühlen Kopf bewahren. Kritik aushalten können und die Grundwerte unserer freiheitlichen Gesellschaft über die möglichen Folgen von schlechter PR stellen. Wie so oft lautet die Frage: Wer macht den ersten Schritt?
Was sagt ihr zu der Kontroverse? Hat Microsoft richtig reagiert? Sagt uns eure Meinung in den Kommentaren.